Ausgabe vom 05-03-2021

Nicaraguas indigene Völker - Neokoloniale Falschmeldungen, autonome Realität

Das Nicaragua-Forum veröffentlicht hier eine Zusammenstellung von Interviews von Stephen Sefton und dem Medienkollektiv Tortilla con Sal mit Vertretern verschiedener indigener und afro-deszendenter Territorialregierungen von Nicaraguas karibischer Küste. Diese Interviews zeigen ein anderes Bild der Situation als dies in Deutschland von verschiedenen Medien und Interessengruppen gezeichnet wird. Von diesen Interviews hatten wir schon in unserer Ausgabe vom 18.02.21 und 25.02.21 jeweils einen Teil des aufschlussreichen Interviews mit den Führern der Mayangnas in deutscher Übersetzung veröffentlicht.

Hier eine kurze Zusammenfassung aus einem Text von Stephen Sefton, Tortilla con Sal, zu den gesammelten Interviews:

Zwischen dem 11. und 16. November 2020, zwischen dem Durchzug des Hurrikans Eta und der Ankunft des Hurrikans Iota, besuchte das Medienkollektiv Tortilla con Sal die autonome Region der nördlichen Karibikküste Nicaraguas. Dort interviewten sie Vertreter verschiedener indigener und afro-deszendenter Territorialregierungen in Siuna, Bilwi, Waspam und Gemeindemitglieder der Miskito-Gemeinden von Wisconsin und Santa Clara. Sie sprachen dabei auch mit Viehzüchtern, Bewohnern und Beamten der Gemeinden Siuna und Prinzapolka über verschiedene Aspekte der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung in der Region. Die Interviews finden Sie hier herunterladen als pdf-Datei in einer englischen und spanischen Fassung. Sie bestätigen in wesentlichen Zügen den Erfolg von Nicaraguas indigenen und afro-deszendenten Völkern in ihrem historischen Kampf um die Rückforderung ihrer angestammten Rechte.

Pueblos indigenas de Nicaragua
Download "Nicaraguas indigene Völker - Neokoloniale FakeNews, autonome Realität" - PDF-Datei, englische und spanische Fassung. Die Originale wurden unter http://www.tortillaconsal.com/tortilla/ veröffentlicht. (je ca. 8,5 MB)

Die Gespräche bestätigen auch, dass die indigenen Völker der Karibikküste Nicaraguas die schrittweise Rückgabe ihrer Rechte zu einem großen Teil aufgrund des Engagements der FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional) erreicht haben. Als die FSLN 1987 an der Regierung war, verabschiedete sie das Gesetz 28 "Autonomiestatut der Regionen an der Atlantikküste Nicaraguas". Später, als sie in der Opposition war, gelang es der FSLN im Jahr 2005, das Gesetz 445 "Gesetz zur Regelung des kommunalen Eigentums der indigenen Völker und ethnischen Gemeinschaften der autonomen Regionen an der Atlantikküste Nicaraguas und der Flüsse Bocay, Coco, Indio und Maíz" zu verabschieden.

Bis heute wurden an der Karibikküste Nicaraguas 23 ursprüngliche Völkerterritorien benannt und abgegrenzt, die 314 Gemeinden mit einer territorialen Ausdehnung von 37.859,32 km² umfassen, in denen eine Bevölkerung von mehr als 200.000 Menschen in mehr als 35.000 Familien lebt. Das Gebiet entspricht 31% des nationalen Territoriums und mehr als 55% des Territoriums der Karibikküste Nicaraguas. Ein bedeutender Komplex von Gesetzen, Verwaltungsnormen und Deklarationen bezeugt die Realität eines innovativen und ehrgeizigen Prozesses, der die Rechte der indigenen und afro-deszendenten Völker Nicaraguas verteidigt.

Die hier gesammelten Interviews erklären auch, wie diese legislativen und administrativen Fortschritte in verschiedenen extrem widrigen Zusammenhängen erreicht wurden. Zum Beispiel befand sich Nicaragua 1987 im siebten Jahr eines von der US-Regierung aufgezwungenen Krieges, in dem ein Großteil von Nicaraguas Karibikküste Schauplatz ständiger militärischer Auseinandersetzungen war.

Dann, nach 1990, während der Periode der Regierungen der Liberalen Parteien, wurde der Prozess der Verteidigung und Förderung der Rechte der indigenen Völker Nicaraguas von den Regierungen absichtlich behindert. Als Daniel Ortega und die FSLN im Januar 2007 ihr Amt antraten, haben sie einen Prozess geerbt, der durch die neoliberale Politik der vorangegangenen sechzehn Jahre ernsthaft sabotiert und beschädigt worden war.

Die gesammelten Interviews zeigen auch die Tragweite des Prozesses der Rückgabe der Rechte an die ursprünglichen Völker Nicaraguas seit 2007 in seiner sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Komplexität. Sie verdeutlichen zum Beispiel, dass die Führer der indigenen und afro-deszendenten Territorien Personen sind, die von ihren Gemeinden nicht aufgrund politischer Zugehörigkeit zu einer Partei, sondern aufgrund von Kriterien der Gemeinschaften gewählt wurden.

Ihre Territorialregierungen und ihre Gemeinschaftsregierungen sind zwei der fünf Regierungsebenen, die in den Autonomen Regionen der Karibikküste Nicaraguas zusammenarbeiten. Die beiden Regierungsebenen der indigenen Völker arbeiten eng mit den entsprechenden Instanzen der Nationalregierung, mit den Regionalregierungen und mit den jeweiligen Gemeindebehörden zusammen.

Dieses Regierungssystem hat an der Karibikküste Nicaraguas wichtige Veränderungen ermöglicht, zum Beispiel in Bezug auf die Elektrifizierung und den Ausbau der Gesundheits- und Wasserinfrastruktur und Bau einer Landverbindungen zur Pazifikküste, aber auch in Bezug auf die Rechtsprechung, das Bildungs- und Gesundheitswesen.

Im Umfeld der Modernisierung der Infrastruktur und bedeutender sozialer und wirtschaftlicher Fortschritte bedient sich die politische Opposition Nicaraguas verzweifelt offener Unwahrheiten. Sie nutzt vor allem das Thema der Eigentumskonflikte aus, um die sandinistische Regierung unter Präsident Daniel Ortega anzugreifen.

Die große Lüge, die von der politischen Opposition in Bezug auf die Eigentumskonflikte in den Territorien und Gemeinden der indigenen Völker verbreitet wird, ist, dass die sandinistische Regierung die Invasion von Mestizenfamilien in indigenes und afro-deszendentes Land fördern würde.

Diese Interviews mit indigenen und afro-deszendenten Führern widerlegen diese falsche Darstellung vollständig. Stattdessen erklären sie den historischen Kontext, in dem indigene Führer, die mit der politischen Partei Miskito Yatama verbunden sind, Land verkauft haben, das ihnen unter der Regierung von Violeta Chamorro zugeteilt wurde.

In der Folgezeit, in der Yatama und die liberale Regierungspartei die Regionalregierung und die meisten Gemeindebehörden der Region kontrollierten, setzten verschiedene korrupte indigene Führer den illegalen Verkauf von indigenem Land an Mestizenfamilien fort. Die natürliche Folge dieses Prozesses war es, dass die Mestizen-Familien, die diese Ländereien kauften, sie später wieder an andere Mestizen-Familien weiterverkauften, wodurch das Problem immer komplizierter wurde.

Das Problem der Landkonflikte wurde erst ab 2012 international bekannt, weil in diesem Jahr die FSLN die Yatama bei den Kommunalwahlen als wichtigste politische Kraft in der Region ablöste und dann 2014 die Kontrolle über die Regionalregierung erlangte.

Die folgende Tabelle zeigt die Entwicklung des Wechsels der politischen Kontrolle in der nördlichen Karibik Nicaraguas auf kommunaler Ebene anhand der Ergebnisse der Kommunalwahlen von 2008 bis 2017.

Gemeinde / Stadt Wahlen 2008/9 Wahlen 2012 Wahlen 2017
Bilwi Yatama FSLN FSLN
Bonanza FSLN FSLN FSLN
Mulukuku PLC PLI PLC
Prinzapolka Yatama Yatama FSLN
Rosita PLC FSLN FSLN
Siuna PLC FSLN FSLN
Waspam Yatama Yatama FSLN
Waslala PLC PLI FSLN
Regional-Regierung Bis 2014 Yatama Nach 2014 FSLN

Im Jahr 2009 kontrollierten Yatama und die Liberal-Konstitutionalistische Partei sieben der acht Gemeinden in der nördlichen Karibikregion. Bei den Kommunalwahlen 2012 gewannen Yatama und die Unabhängige Liberale Partei zusammen vier Gemeinden und die FSLN ebenfalls vier. Im Jahr 2014 verlor Yatama dann die Regionalwahlen an die FSLN und bei den Kommunalwahlen 2017 gewann die FSLN sieben Gemeinden, so dass nur noch die Gemeinde Mulukukú in den Händen der PLC war. Yatama und die PLC gewannen immer noch eine gute Anzahl von Gemeinderäten, aber erreichten nicht mehr die Gesamtkontrolle über Gemeinden.

Als Reaktion auf diesen Rückgang der Macht und des Einflusses von Yatama und den liberalen Parteien in der Region wurde eine intensive Verleumdungskampagne gegen die sandinistische Regierung gestartet. Die Kampagne wird von Vertretern der Yatama und ihren Verbündeten in Nicaraguas Nichtregierungsorganisationen, die mit der nationalen politischen Opposition verbunden sind (wie dem Movimiento Renovador Sandinista) gefördert und aus den Vereinigten Staaten und Ländern der Europäischen Union mit finanziert.

In ähnlicher Weise verlor die Yatama auf der Ebene der territorialen Regierung an Einfluss, zum einen wegen der tiefen internen Differenzen innerhalb der Partei und zum anderen, weil viele Gemeindemitglieder aufhörten, dem historischen Anführer der Yatama, Brooklyn Rivera, und den mit ihm verbundenen indigenen Führern die gleiche Unterstützung zukommen zu lassen, wie sie es zuvor getan hatten.

Diese Realität der sich neu entwickelnden politischen Szene in der Region der Karibikküste Nicaraguas wurde systematisch falsch dargestellt, sowohl von den an der nationalen Opposition ausgerichteten Medien und Intellektuellen als auch international von ausländischen Vertretern und Aktivisten, die mit Yatama und der MRS verbündet sind. Das Zeugnis der indigenen Führer in diesen Interviews zeigt jedoch überzeugend die bestehende Realität und widerlegt die Unwahrheit, die international verbreitet wurde.

Download "Nicaraguas indigene Völker - Neokoloniale FakeNews, autonome Realität" - PDF-Datei, englische und spanische Fassung. Die Originale wurden unter http://www.tortillaconsal.com/tortilla/ veröffentlicht. (je ca. 8,5 MB)