Berichte von Partnern aus Nicaragua zur aktuellen Situation

Deutsche Übersetzung: Rudi Kurz, Nicaragua-Forum HD e.V.

Ausgabe vom 07.02.2019

Kommission für Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden legt dritten Bericht über die Krise in Nicaragua vor

Comisión de la Verdad, Justicia y Paz

Neue Daten über die Toten, das Vorkommen sozialer Netzwerke und die Rolle der katholischen Kirche.

Von Giorgio Trucchi

Der letzte Bericht - der dritte, der kürzlich von der Wahrheits-, Justiz- und Friedenskommission CVJP vorgelegt wurde, einer vom nicaraguanischen Parlament mit dem Ziel einer objjektiven Untersuchung geschaffenen Instanz, "die seit dem 18. April 2018 in Nicaragua aufgetretenen gewalttätigen Ereignisse und Todesfälle zu erfassen, zu analysieren und zu klären", enthält neue Elemente von großer Bedeutung, unter anderem eine Aktualisierung der Zahl der getöteten Menschen, die Auswirkungen der sozialen Netzwerke in der Krise, ihre psychosozialen Auswirkungen und die Rolle der Katholischen Kirche.

- Den dritten Bericht des CVJP können Sie hier lesen und herunterladen  

Demnach wurde "nach einem gründlichen Prozess der Untersuchung, Analyse und Verifizierung" die Zahl der Verstorbenen mit 253 angegeben, die meisten Männer (243) und unter 35 Jahre (175).

Von der Gesamtzahl der Todesfälle stehen 220 in direktem Zusammenhang mit dem Konflikt, 27 im Kreuzfeuer bei Schusswechseln und 6 durch indirekte Schüsse.

Mindestens 9 Namen aus Listen, die von Menschenrechtsorganisationen veröffentlicht wurden, darunter auch die Liste von der Interdisciplinary Group of Independent Experts (GIEI) der OAS, sind nicht existent. Es gibt einen weiteren Unterschied von 14 Todesfällen zwischen den beiden Listen (CVJP und GIEI/OEA).

Eine weitere wichtige Tatsache, die von Oppositionsgruppen und internationalen Menschenrechtsorganisationen vorgetragen worden war und von der OAS und der OHCHR aufgegriffene Argumentation des "Massakers an friedlichen und unbewaffneten Gegnern" wurde zum Teil durch die Liste der Zugehörigkeiten der Toten zunichte gemacht. Von der Gesamtzahl der Todesfälle gehören 31 zu "selbsternannten Gruppen", 48 gehörten zu der Gruppe der Sandinisten, 22 sind Polizeibeamte und über die restlichen 152 gibt es keine bestimmenden Informationen zur Zugehörigkeit (Seite 6).

Die Sperren des Todes

140 Menschen starben an den Folgen der Blockaden (Barrikaden) (es gab Hunderte davon im ganzen Land), die von Oppositionsgruppen errichtet wurden. 31 von diesen starben bei Protesten um die Reform der sozialen Sicherheit, 27 bei direkten Schusswechseln, 13 wurden ermordet (wegen Ursachen, die nichts mit dem Protest zu tun haben) und 11 wegen dem versuchten Schutz von öffentlichem oder privaten Eigentum.

56% der Todesfälle (141) ereigneten sich zwischen Mai und Juni 2018, während der Ankündigung und Durchführung der Mesa de Diálogo (Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition) und der Zunahmen von Blockaden "als eine Form des Zwangs gegen die Regierung".

Die überwiegende Mehrheit der Toten waren Arbeiter (60), Selbständige (57) und Arbeitslose (40). Sieben Gymnasiasten und acht Studenten starben ebenfalls.

 

Die letzte Statistik -8 verstorbene Studenten - widerspricht der Position der Mainstream-Medien und der unabhängigen Medien der Opposition, die seit Monaten national und international die "Nachricht" verbreiten, dass es in Nicaragua einen gigantischen "friedlichen, selbstbestimmten und unbewaffneten" Studentenaufstand gab, der später von der Polizei und den paramilitärischen Kräften gewaltsam unterdrückt wurde, was zu einem "Massaker an Studenten" führte.

Gerichtsverhandlungen gegen inhaftierte Personen

Im Gegensatz zu Daten, die von oppositionellen Organisationen und Medien verarbeitet werden, hat die CVJP im Dezember letzten Jahres die Anwesenheit von 438 Personen in den Hauptgefängnissen des Landes festgestellt, die im Rahmen der gewalttätigen Ereignisse von 2018 inhaftiert wurden. Neue Besuche im Januar des neuen Jahres bestätigten, dass davon bereits 76 Personen für nicht schuldig befunden wurden, so dass insgesamt 362 Häftlinge zurückblieben (Seite 15).

Der Bericht enthält auch Angaben über den Zugang zur Kommunikation und zu den Beziehungen zu Familienmitgliedern, zur medizinischen Versorgung und zu anderen Möglichkeiten der Gefangenen, wie z.B. kulturellen und sportlichen Aktivitäten.

"Bei denjenigen, die inhaftiert wurden, legte niemand Beweise für Körperverletzungen vor, und keiner äußerte, dass er/sie Folter oder grausamer oder unmenschlicher Behandlung ausgesetzt waren", heißt es im Dokument. 

Auch in diesem Fall widerspricht der Bericht den Informationen von nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen sowie den Zahlen, die im Netz zirkulieren, etwa tausend oder mehr Gefangene, die von der Opposition überwiegend als "politische Gefangene" bezeichnet werden.

Ein weiteres Thema, mit dem oppositionelle Aktivisten die sozialen Netzwerke füllen ist die Aussage, dass es "Verschwundene" gibt. Auch dafür konnte kein Nachweis gefunden werden.

Entführungen, Folter und Demütigungen

Die Kommission, mit der keine der internationalen Menschenrechtsorganisationen zusammentreffen wollte, die Abordnungen im Land hatten, um Fakten und Zahlen zu vergleichen, erklärte sich äußerst besorgt über die vielen Beschwerden von Bürgern, die im Zusammenhang mit der gesellschaftspolitischen Krise Opfer von Entführungen, Folter, Misshandlung und unmenschlicher Behandlung veröffentlicht wurden.

Das Dokument enthält eine umfassende Analyse dieser Ereignisse (S. 17) sowie Zeugnisse von Betroffenen und Überlebenden, die Auswirkungen der Straßensperren, an denen sich die meisten Todesfälle ereignet hatten und die der Ort für "illegale Aktivitäten und den übermäßigen Einsatz von Gewalt sowie Verletzungen, Missbrauch, Diebstahl, Demütigen, Beleidigen, Dominanz, Folter, Zerstörungen oder Tod waren" (S. 21).

Sachbeschädigung, soziale Netzwerke und psychosoziale Auswirkungen

In fünfundfünfzig Prozent der Gemeinden (84 von 153) kam es zu schweren Schäden an der öffentlichen Infrastruktur (Seite 31) in Höhe von fast 28 Millionen Dollar. Die am stärksten von kriminellen Gruppen betroffenen Gemeinden waren Masaya (27% des Gesamtschadens), Managua (19%) und Matagalpa (17%).

Was die sozialen Netzwerke betrifft (Seite 40), so haben zwar nur 10% der Nicaraguaner einen Computer, aber mehr als 80% haben Zugang zum Internet, vor allem über mobile Geräte. Die am häufigsten verwendeten Anwendungen sind Whatsapp (88%), Facebook (86,4%), Instagram (68%), Youtube (63%) und Twitter (55%).

"Das Verhalten der sozialen Netzwerke während der Proteste vom April 2018 war entscheidend für die Ausbreitung der Proteste, durch Anwendungen wie Facebook und Twitter wurden Inhalte viralisiert, die mit Vorsatz zur Täuschung erstellt wurden, deren Ziel es war, Einfluss auf die Gefühle und Emotionen von Menschen zu nehmen, ein wütendes und gewalttätiges Verhalten nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen Sympathisanten der Regierungspartei zu erzeugten und sogar diejenigen, die neutrale Positionen einnahmen, nachdrücklich dafür zu verurteilen", schreibt die CVJP.

"Die falschen Nachrichten und ihre schnelle Verbreitung durch soziale Netzwerke haben einen Effekt erzielt, der den Protest ermutigte (....) Ein idealer Nährboden wurde mit der falschen Meldung über die Ermordung eines jungen Studenten der Universidad Centroamericana (UCA) geschaffen (....) Die Folge war die Auslösung extremer negativer Gefühle", heißt es im Bericht weiter.

Aus diesem Grund warnt die Studie der Kommission vor der Existenz von Organisationen in Nicaragua, die sich seit Jahren der "Bildung und Ausbildung von Hunderten von Akteuren aus verschiedenen Sektoren für das Management sozialer Netzwerke und die Förderung von Kampagnen widmen, die sich insbesondere gegen die Regierungspartei, ihre Führung und deren Sympathisanten sowie gegen die Regierungsarbeit und die öffentlichen Behörden richteten.

Auch die psychosozialen Auswirkungen der Krise auf die Bevölkerung (Seite 47) und die Rolle der katholischen Kirche (Seite 54) werden analysiert.

"Die Beteiligung der Bischofskonferenz war von Anfang an durch den zweideutigen Umgang mit zwei Konzepten und Realitäten geprägt: der katholischen Kirche - Bischöfe der Kirche und durch das Fehlen einer konsequenten Definition von zwei bestimmenden Rollen: der Organisation des nationalen Dialogtisch und der Funktion des Mediators.

In diesem Sinne wird das Fehlen von Mindestvoraussetzungen ( gravierende Einschränkungen, Unklarheiten und Verwirrungen) für den Dialog analysiert, wobei die Bischöfe gleichzeitig "Vermittler und Zeugen" waren, durch diese Rolle ihre Art von Ergebnis garantieren konnte (Seite 57).

"Während des gesamten Prozesses behaupteten einige Bischöfe, dass sie zwei Funktionen gleichzeitig übernehmen könnten, die der Mediatoren und die der Verteidiger und Unterstützer des Opositionssektors gegen die Regierung (....) Dieser Fehler hatte schwerwiegende Folgen. Die Sprache einiger Bischöfe hat die Menschen radikalisiert (....) und sogar starke Widersprüche in der katholischen Gemeinschaft hervorgerufen", heißt es im Bericht.

Für die CVJP besteht ein nationaler und allgemeiner Konsens darüber, dass die Krise in Nicaragua im Dialog gelöst werden muss.

"Wir hatten gerade eine gescheiterte Erfahrung mit dem Versuch der Kapitulation. Die einzige Schlussfolgerung ist, dass wir alle unser Verhalten überprüfen müssen, um bessere Strategien zur Überwindung der Krise zu finden und immense und irreparable Schäden für die Nicaraguaner zu vermeiden", schließt der Bericht.