Kann man diese Konflikte erklären?
Solidarität im nicaraguanischen Psychokrieg
Es ist fast schon egal, in welchem deutschsprachigen Presseorgan wir über Nicaragua lesen. Fast überall wird der Präsident Daniel Ortega für eskalierende Proteste und für den Tod von inzwischen über 300 Regierungsgegnern verantwortlich gemacht. Auf der anderen Seite galt Nicaragua in den letzten Jahren nicht nur als besonders sicheres Land in Lateinamerika, als neues aufkommendes Reiseziel und als Land mit erfolgreichen Sozialprogrammen der Regierung. Nicaragua galt fast als Musterland der Entwicklung, die Zahl der Armen sank stetig, mehr Kinder besuchen mehr Schuljahre die Schule, selbst die Polizei wurde für Präventionsprogramme international ausgezeichnet. Für einige Beobachter trübte zwar der stetige Widerstand gegen die US-Politik in Lateinamerika das positive Bild, aber dies galt auch als Lokalkolorit.
Seit dem 18. April hat sich diese Situation grundlegend geändert. Innerhalb von wenigen Tagen wurde Nicaragua von gewalttätigen Protesten und Demonstrationen überflutet. In vielen Städten des Landes gibt es seither Straßensperren (Tranques), immer wieder Überfälle und Schießereien, selbst in einfachen Stadtteilen. Bewaffnete Gruppen bewachen die Barrikaden, sperren große und kleine Straßen nach Gutdünken ab und genehmigen oder verweigern das Durchkommen. Viele Familien vermeiden es, ab dem Nachmittag noch auf die Straße zu gehen. Angst und Unsicherheit haben die Menschen ergriffen.
Wie ist eine solch abrupte Veränderung möglich?
Wie kann sich eine Situation innerhalb von wenigen Tagen so verändern? Gut, Nicaragua war immer als eine gespaltene Gesellschaft bekannt, fast unabhängig von der Schichtzugehörigkeit der Menschen. Im Gespräch mit Leuten konnte man immer wieder offen oder verdeckt etwas von den Widersprüchlichkeiten erfahren, die die Menschen prägten. Aber diese Differenzen wurden nicht offen und schon gar nicht gewaltsam ausgetragen.
Bei uns lesen und hören wir in allen Medien seit Wochen die überbordende Ortega-Kritik. In Nicaragua sind auch die Medien gespalten. Es gibt nicht nur keine neutrale Informationsbasis, sondern falsche Informationen werden in Medien und vor allem in sozialen Netzwerken bewusst polarisierend eingesetzt. Nicht nur dass es das erste gemeldete Todesopfer der Proteste gar nicht gab, Schuldzuweisungen werden bewusst zur Mobilisierung eigener Kräfte erfunden.
Im Dschungel der Meldungen
Aktuell sind wir als solidarisch engagierte Mitteleuropäer immer noch am Lernen, welche Rolle Informationen im Falle von Konflikten und Kriegen spielen und zukünftig spielen können. Wir wissen von den krassen Fake-News-Beispielen als Element der Kriegsführung (Irak, Ukraine, beim „Arabischer Frühling“, in Syrien,…), aber zur Beurteilung von Kampagnen und ihrer Erprobung in niederschwelligen Konflikten fehlen noch viele Erfahrungen. Vielen in Nicaragua geht und ging es aktuell nicht anders, sie scheinen fast schon zu Studienobjekten der Wirkung eines medialen Psychokrieges zu werden.
Dies bedeutet nicht, dass man alle Toten und Verletzten bei Protesten (vor allem zu Beginn der Protestaktionen) einfach wegerklären darf. Sie sind geschehen und es ist wichtig, dass diese Fälle unabhängig und differenziert durch die Interamerikanische Menschenrechtsorganisation und Expertengruppen in Kooperation mit der Staatsanwaltschaft Nicaraguas untersucht und verfolgt werden.
Was bedeutet Solidarität in diesem Konflikt?
Eine Solidaritätsarbeit, die sich nicht schon grundsätzlich auf die Unterstützung einer Seite im Konflikt festgelegt hat, ist in einer solchen Situation schwierig zu leisten. Auf der einen Seite stehen Partnerorganisationen, die in ihrer Arbeit zum Teil stark eingeschränkt sind, aber sich scheuen, diese Probleme offen und deutlich zu thematisieren – z.B. auch, weil sie als Organisation der Neutralität verpflichtet sind. Ihnen gilt unsere Fürsprache und die Bereitschaft, bestehende Kooperationen fortzuführen und die Kontakte durch direkte Besuche aufrechterhalten.
Auf der anderen Seite steht die Veröffentlichung von verlässlichen Informationen aus dem Dschungel von gefärbten Meldungen und Berichten. Spender und Unterstützer unserer Arbeit bringen uns einen Vertrauensvorschuss entgegen, den es nicht zu enttäuschen gilt. Gleichzeitig können und müssen unsere Informationen und Berichte angesichts der kampagnenartig gleichen Bilder, die in deutschen Medien von der Situation in Nicaragua gezeichnet werden, differenziert andersartig sein. Unsere langjährige Zusammenarbeit mit Vertretern von US-amerikanischen Solidaritätsorganisationen hat dabei natürlich einen Einfluss, denn diese kennen die Einflussnahme und Verwicklung der Politik ihres Landes auf Nicaragua noch deutlich besser als wir.
Rückzug auf Projektarbeit?
Angesichts der Konflikte und widersprüchlichen Berichte aus Nicaragua taucht ganz schnell der Gedanke auf, die Arbeit lieber auf „seine“ konkreten Projekte zu begrenzen, statt sich in politische Widersprüche zu verwickeln. Aber warum dann Nicaragua und nicht Äthiopien? Die Solidarität mit Nicaragua stand immer auch für das Ziel einer nationalen Unabhängigkeit, der Befreiung aus der Vorherrschaft der USA. Und Nicaragua-Solidarität stand für eine soziale Entwicklung gerade für arme Schichten im Land, für Kleinbauern und einfache Beschäftigte. Dafür stand einst Sandino, dafür stand die Revolution und auch unter der Ortega-Regierung spielte die soziale Entwicklung eine weit größere Rolle als in anderen Ländern Lateinamerikas.
Schwer nachvollziehbar ist es, dass das Infobüro Nicaragua als einstige Zentrale der bundesdeutschen Nica-Solidarität jetzt ganz offiziell andere Ziele verfolgt. Sie wollen sich hinter die Sache der nicaraguanischen Studenten stellen, die von der extremen Rechten in den USA unterstützt werden. Was sie sich aus dem Konglomerat von extremen Republikanern, Studenten von Privatuniversitäten in Nicaragua, dem Verband der nicaraguanischen Großunternehmer und der nach dem NICAAct rufenden MRS in Nicaragua versprechen, ist nur schwer zu verstehen. Vielleicht ist es nur ein konsequenter Schritt, denn das Infobüro ließ uns ja wissen, dass sie auch in den letzten 25 Jahren eigentlich nicht hinter der sandinistischen Sache standen.
Wir alle wissen, dass die Welt bisher keine Revolution kennt, die einfach alle Ziele der Beteiligten verwirklicht hätte. Auch in Nicaragua gab und gibt es vielerlei Widersprüchlichkeiten. Zu diesen Widersprüchen gehört es, dass es bisher keine ausreichend starken staatlichen Institutionen gibt, die in jeder Situation die staatlichen Aufgaben so erfüllen, wie es notwendig wäre. Hier bewegt sich Nicaragua auf dem Niveau seiner Nachbarländer, genauso wie bei den demokratischen Defiziten und dem ausgebauten Autoritarismus.
Natürlich können wir uns als in der Solidaritätsarbeit aktive Menschen vieles wünschen für die Entwicklung in Nicaragua, auch große Umbrüche und Wandlungen. Aber wenn es uns um die vielfach existenziellen Bedürfnisse der einfachen Menschen in Nicaragua und in unseren Partnerorganisationen geht, dann reichen irgendwelche politischen Wünsche nicht, sondern dann geht es um konkrete Schritte und einen Dialog, bei dem jede Seite damit beginnt, ihre Verantwortung ernst zu nehmen.
Rudi Kurz