NicaNotes vom 08.02.2017

Ein wöchentlich von Chuck Kaufman zusammengestellter Blog zu aktuellen Entwicklungen in Nicaragua. Chuck Kaufman ist ein langjähriger Koordinator des Nicaragua-Network (USA).

Bildung: ein Recht hat wieder Vorrang

Ein Artikel in El Nuevo Diario vom 6.Februar berichtete, dass ab dem 1.Februar, an dem das neue Schuljahr beginnt, über 1,5 Millionen Schüler in den öffentlichen Schulen angemeldet seien. Die Zeitung schätzte, dass Ende Februar 1,7 Millionen Schüler die öffentlichen Schulen besuchen würden.

Ich dachte zehn Jahre zurück, in welchem Zustand das Bildungssystem in Nicaragua war, als Daniel Ortega die Präsidentenschärpe umgelegt wurde und er als erste Amtshandlung das Ende des Schulgeldes erklärte. Siebzehn Jahre neoliberaler Regierungen seit der Wahlniederlage der Sandinisten im Jahre 1990 hatten das öffentliche Schulsystem dezimiert. Unter den strukturellen Anpassungsvorschriften des IWF, die die Präsidenten Chamorro, Aleman und Bolaños sklavisch erfüllten, wurde das Geld für die Aufrechterhaltung und Infrastruktur der Schulen zurückgehalten, die Lehrer waren die am geringsten bezahlten in Mittelamerika, und die Eltern mussten monatlich Schulgeld für Schuluniformen, Tests, Hausmeisterdienste, die Abgangszeugnisse bezahlen, und noch für weiteres.

Wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lässt, waren im Jahre 2006 ungefähr 700 000 Schüler in den Schulen. Viel mehr waren auf den Straßen, schufteten auf den Feldern, arbeiteten in informellen Bereichen der Wirtschaft, um ihren Familien zu helfen zu überleben. Als die Schulen im Februar des Jahres 2007 ihre Tore öffneten, erschienen über 100 000 Kinder, die vorher nicht angemeldet worden waren. Es gab nicht genug Klassenräume. Es gab nicht genug Tische. Und es gab na

türlich nicht genug Lehrer! Es war ein Jahr der Improvisation, und ich bin sicher, es war ein Jahr, dessen Wiederholung sich kein Lehrer wünschen würde!

Die Rückkehr der Sandinistischen Regierung bedeutete eine Rückkehr der revolutionären Ideale, die besagten, dass jeder ein Recht auf Bildung hat. Gesundheitsfürsorge ist ein Recht. Würdiges Wohnen ist ein Recht. Richtige Ernährung ist ein Recht. Die neue Regierung machte sich daran, die Rechte wiederherzustellen, die das Volk von Nicaragua mit so viel Blut erkämpft hatte, als es die Somoza-Diktatur stürzte. Rechte, die nur teilweise während der revolutionären Jahre erfüllt worden sind, weil so viel vom nationalen Schatz- sowohl des materiellen als auch des menschlichen – für den Kampf gegen die Contras abgezweigt wurde, der durch die Regierung der Vereinigten Staaten aufgezwungen worden war.

Die Regierung von Präsident Daniel Ortega wusste, dass es nicht genüge, die Bildung einfach kostenlos zu machen. Sie mussten Schulen bauen. Sie mussten Klassenzimmer reparieren. Sie mussten eine große Anzahl von Tischen und Büchern kaufen. Und sie machten sich an die Arbeit. Nicaragua ist das zweitärmste Land in der Hemisphäre, aber jedes Jahr hat es die Ausgaben für Bildung erhöht, für Gebäude, für Schüler und für Lehrerbezahlung und ihre Ausbildung.

Aber sogar das war nicht genug. Eltern konnten ihre Kinder nicht zur Schule schicken, wenn sie keine Kleidung hatten, wenn sie sich Bleistift und Heft nicht leisten konnten, wenn die Mitarbeit des Kindes für den Lebensunterhalt der Familie nötig war.

So waren die ganzen ausgezeichneten Armutsreduzierungsprogramme, die seit dem Regierungsantritt der Sandinisten durchgeführt wurden, und was als Kampf um die Sechste Klasse bekannt wurde , ein integriertes Programm. (Kampf um die Sechste Klasse war ein Programm, mindestens das Bildungsniveau der sechsten Klasse nicht nur für jedes Kind, sondern für jeden Nicaraguaner zu erreichen, so dass das Programm für die Erwachsenenbildung ebenfalls ein Teil von diesem Mix war.)

Die Regierung begann ein Programm, Uniformen für die Ärmsten der Armen zu beschaffen. Die Regierung lieferte zu Schuljahresbeginn einen Rucksack voller Schulutensilien. Wahrscheinlich aber war der größte Einzelposten, den die Regierung verwirklichte, um die Schüler in der Schule zu halten, das Schulessen-Programm. (In einigen Schulen ist es das Frühstück, in anderen das Mittagessen).

Und was für ein tolles und facettenreiches Programm ist das! Nicht nur, dass es die Kinder speist, sondern es ist auch ein Bestandteil eines wieder zum Leben erweckten bäuerlichen Landwirtschaftssektors. Der Neoliberalismus hatte in seinen Plänen keinen Platz für bäuerliche Landwirtschaft, und doch stellte dieser Sektor historisch etwas wie 60% des Bruttoinlandsprodukts dar. Mit dem Schulessen-Programm hatten die Kleinbauern durch die Regierung einen garantierten Markt für ihre Grundnahrungsmittel wie Bohnen, Getreide und Reis. Viele arme Familien schickten ihre Kinder zur Schule aus dem einfachen Grunde, dass sie eine anständige Mahlzeit pro Tag erhalten konnten.

Das Schulessen-Programm war bereits ein Gemeinschaftsangelegenheit, wobei Freiwillige das Essen für die Schüler zubereiteten, aber die Regierung machte einen weiteren Schritt vorwärts. Sie stellte Produkte und Anleitung zur Verfügung, um einen Schulgarten anzulegen, einschließlich von Gemüse und Obstbäumen. Noch mehr Menschen aus der Gemeinschaft wurden beteiligt, und ein Teil der Ausbildung eines jeden Kindes bestand darin zu lernen, wie die Nahrungsmittel, die man aß, anzupflanzen sind.

Das historische Ernährungsdefizit in Nicaragua besteht sei jeher in einem sehr konservativen Speiseplan, der hauptsächlich aus Bohnen, Reis und Getreidetortillas besteht. Die wirklich Armen mussten gerade mal mit Tortillas mit Salz auskommen. Durch die Schulgärten wurden die Schüler und ihre Eltern mit Obst, Blattgemüse und Wurzelgemüse konfrontiert, was sie normalerweise nicht aßen – und sie wurden darin unterrichtet, wie schmackhafte und abwechslungsreiche Mahlzeiten zubereitet wurden.

Ich gebrauche das Wort „ausgezeichnet“ in diesem Artikel allzu häufig, aber ist es nicht ausgezeichnet? Wie oft sind ausländische Wohltäter in die Gemeinden gegangen mit der festen Absicht, ihnen zu zeigen, wie man besser isst. Wie viele dieser angelegten Gemeindegärten existierten noch nach einem Jahr, nachdem die Ausländer gegangen waren? Das passiert bei den Schulgärten nicht. Die ganze Gemeinde kann den Nutzen sehen. Diese Herangehensweise erlaubte, dass das Konzept eines abwechslungsreichen Speiseplans sich organisch in das Bewusstsein der Gemeinschaft hineinentwickelt, und nicht von außen aufgepfropft wird und dann verkümmert.

Mit anderen Programmen hat die Sandinistische Regierung die ländliche Gebiete des Landes nicht vergessen wie alle vorhergehenden Regierungen. Sie hat ihr Augenmerk auf den Bau und die Renovierung ländlicher Schulen gerichtet, und im Jahre 2016 hat das Institut für Nationale Technologie (INATEC) weitere 40 Technologiezentren in ländlichen Gebieten eröffnet, die zu den 40 hinzukamen, die es bereits gegründet hatte. Regierungssprecherin Rosario Murillo sagte, sie wären „voll eingerichtete Technologiezentren, ausgestattet mit Computern und ihrem Zubehör, um Computerkurse auf dem Lande durchzuführen.“ Sie fügte hinzu, die Zentren würden dazu beitragen, die Armut auf dem Lande auszumerzen. Telemaco Talavera, Präsident des Nationalrates der Universitäten (CNU), merkte an, dass in den letzten Jahren die Zahl der nicaraguanischen Absolventen in technischen Berufen von 17 000 auf 27 000 gestiegen sei.

All dies soll nicht heißen, dass Nicaragua das Nirwana des Bildungssystems entwickelt hat. Nehmt eure Schüler nicht aus der Schule und schickt sie nach Nicaragua. Der Schulbesuch liegt bei um die Mitte der 90er Prozente, aber das Fernhalten von der Schule ist immer noch ein Kampf. Viel Geld ist für den Bau und die Reparatur von Schulen und Klassenzimmern ausgegeben worden, aber Überfüllung und die Klassengröße ist immer noch ein Problem. Lehrplanreformen sind durchgeführt worden, aber die meisten Lehrer wurden in dem alten Stil des Rezitierens und des Wiederkäuens ausgebildet, so dass der Wandel nur langsam kommt.

Aber ist es nicht besser, 1,5 Millionen Schüler in den Schulen zu haben als nur 700 000? Ist es nicht besser, eine Verpflichtung für eine allgemeine und kostenlose Bildung zu haben als zu sagen, arme Menschen, besonders die Armen auf dem Lande, bräuchten keine Bildung uns Ausbildung? Die gegenwärtige Regierung ist vielleicht für einige von uns aus dem privilegierten Norden nicht revolutionär genug. Aber versucht nicht, mir zu erzählen, dass das Erwecken des Geistes eines Kindes keine revolutionäre Handlung sei! Denn ohne diesen ersten Schritt ist keiner der folgenden Schritte möglich.


Zu den Kurzmeldungen der Woche
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Übersetzung: Peter Schulz.
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