NicaNotes vom 25. August 2016

Was wurde aus Nicaraguas 78% “unbewohnbaren” Wohnungen?

Von Chuck Kaufman

Eine Meldung in den Nachrichten vergangener Woche fiel mir besonders ins Auge: ein Artikel in El Nuevo Diario über das Zweite Zentralamerikanische „Forum Wohnen und Stadt“. Hector Lacayo, der Präsident der Architektenkammer von Nicaragua wurde mit seiner Aussage zitiert, dass 78% der Nicaraguaner in Häusern lebten, die nicht dem „Mindeststandard für Bewohnbarkeit“ entsprächen. Gemäß dem Entwicklungsplan der Sandinistischen Regierung gibt es landesweit ein Bedarf von 950000 Wohnungen.

Und doch hat sich viel geändert seit den Tagen, als Somoza erklärte: “Nicaragua ist mit einem so vollkommenen Klima gesegnet, dass die Menschen keine Häuser brauchen“. Ich konnte für diese Zitat keine Quelle finden, vielleicht ist es also nicht echt, aber es gibt zweifellos die Haltung unter der Diktatur von Somoza und den Jahren der neoliberalen Regierungen der Jahre 1990 – 2007 wieder.

Während der Revolutionsregierung in den 1980ern unterstützte das Netzwerk Nicaragua so manche Baubrigade beim Bau von Häusern zusätzlich zu dem von Schulen, Gesundheitsstationen und Gemeindezentren. Ich erinnere mich, wie bestürzt wir darüber waren, dass Präsidentin Violeta Chamorro unser letztes Wohnprojekt 1990 den demobilisierten Contras überließ. Aber die Regierung der 1980er führte Krieg gegen die von den USA ausgebildeten und unterstützten Contras und war deshalb wirklich nicht in der Lag, das bedenkliche Thema Wohnraum anzugehen. Und auch wenn die neoliberalen Regierungen Chamorro, Aleman und Bolaños sich um die Armen hätten kümmern wollen, hätten die Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF ihnen nicht erlaubt, den Wohnraummangel zu beheben.

Erst als die nicaraguanischen Wähler den Sandinisten in der Wahl von 2006 die Macht zurückgaben, war die Regierung von Präsident Daniel Ortega in der Lage, sich umfassend mit dem Wohnungsbau zu befassen. Sie zeigte dem IWF, dass man notwendige Maßnahmen der Sozialpolitik nicht vernachlässigen darf und war dann so erfolgreich, dass der IWF sie schließlich loben und der nicaraguanischen Wirtschaft das Etikett nachhaltig verleihen musste und schließlich auch sein Büro schloss und zum ersten Mal seit 1990 nach Washington zurückkehrte.

Als ich also das obengenannte Zitat sah, fragte ich mich, was im Kontext Nicaraguas als „Mindeststandard für Bewohnbarkeit“ gilt? Eine Internetrecherche nach den Standards für Wohnungen erbrachte nur Angaben für die USA – und diese auf Nicaragua zu übertragen wäre aberwitzig.

Ich denke, dass man vor 2007 gesagt hätte, Schutz vor Wind und Regen sei Mindeststandard für Bewohnbarkeit. Heutzutage, nach neun Jahren sandinistischem Investment in gediegenen Wohnbau, würden wir zu den Mindeststandards auch Zugang zu Elektrizität, Trinkwasser, Kanalisation und möglicherweise Gasanschluss zum Kochen zählen. Ich weiß nicht, welche Standards Herrn Lacayo zugrunde legte, als er auf seine 78% kam, beziehungsweise, welcher Prozentsatz vor 10 Jahren galt, aber ich weiß, dass Hunderttausende, wenn nicht mehr Nicaraguaner in besseren Häusern leben als vor 2007.

Wie kam das? Die einfache Antwort ist: weil auf Seiten der Regierung der Wille da war, den sozialen Rechten des Volkes wieder Geltung zu verschaffen. Das wurde umgesetzt in ganzheitlichen Maßnahmen, die die Verbesserung der Infrastruktur beinhalteten, besonders die Ausweitung des Zugangs zu Elektrizität, auch in ländlichen Gebieten und zu starken Kapazitätserweiterungen bei den Trinkwasser- und Abwassersystemen in den Städten. (Heute verfügen 76,2 % der Bevölkerung über Elektrizität, verglichen mit 55% um 2006.) Es bedeutete freien Zugang zu Bildung und Gesundheitsvorsorge, weil Bildung und Gesundheit entscheidend sind für jede Erhöhung des Lebensstandards. Es bedeutete Stärkung der Wirtschaft, so dass hunderttausende Arbeiter Stellen im formalen Sektor bekamen, wo sie Arbeitnehmerrechte und Rentenansprüche haben. Es bedeutete, dass Eigentumsrechte gesetzlich festgeschrieben wurden, eine Aufgabe, die liegengeblieben war während der Maßnahmen der Landreform der Revolutionsregierung. Wenn man keinen Besitztitel für sein Land hat, wird man nicht in den Bau von soliden Häusern investieren und außerdem dafür auch kein Bankkredite bekommen. Und schließlich hat die Regierung sich konzentriert auf die wirtschaftliche Situation der Familien und hat extra dafür ein Ministerium mit diesem Namen aufgebaut. Null Hunger, Null Zinswucher, Versorgung mit Gartenzubehör und Training für städtische Familien – all das hat Lebensstandard und Moral der Menschen verbessert.

Aber die Regierung hat auch direkte Bauprogramme aufgelegt. Zuerst der Plan Techo (Dächer-Plan), der sowohl ein politisches, als auch ein soziales Projekt war. Über 121.500 Familien haben 10 Platten galvanisierter Metall-Dachpaneele bekommen seit dem Beginn des Programms 2007. Das heißt, 121.500 Familien haben kein undichtes Dach mehr. Die brillante politische Idee war, Kardinal Miguel Obando y Bravo mit dem Programm zu betreuen. Mit Obando in der Verantwortung vertrauten die früheren Contras dem Programm und das Ergebnis war, dass viele der früheren Gegner der Sandinisten zu Anhängern wurden, als sich herausstellte, dass die Rhetorik der Versöhnung unterfüttert war durch materielle Taten.

Als Nächstes kam der Bau vor erschwinglichen Häusern, deren erste Besitzer frühere Arbeiter in der Zuckerrohrpantagen waren, die unter den belastenden Nachwirkungen der Vergiftung durch Nemagon litten. Sie hatten jahrelang unter Plastikplanen außerhalb der Gebäude der Nationalversammlung campiert. Frühere Arbeiter auf den Kaffeplantagen, die durch den Verfall der Kaffeepreise in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende verarmt waren und auch jahrelang in Zelten in Managua lebten, bekamen Wohnraum. Und dann wurde die Müllhalde La Chureca in Managua, eine der schlimmsten in Lateinamerika, geschlossen und die Familien, die dort gelebt hatten, bekamen auch anständige Wohnungen.

In neuerer Zeit wurde dieses Programm weiterentwickelt und erweitert durch eine Partnerschaft von Regierung, Bauwirtschaft und Banken. Baufirmen erstellten einfache Häuser für 20.000 $ oder darunter und die Käufer bekamen vom Staat Garantien und von den Banken Darlehen zu niedrigen Zinsen, dadurch konnten sich Lehrer, Polizisten, Feuerwehrleute und andere Arbeitnehmer mit niedrigen Löhnen ein Haus leisten. Dies ist das Programm, dessen schnellere Ausweitung Hector Lacayo in dem Artikel, den ich am Anfang dieses Blog zitierte, fordert.

Es steht mir nicht zu, die Statistik anzuzweifeln, nach der 78% der Nicaraguaner in Häusern unterhalb des Standards leben. Was aber ebenso klar ist, ist, dass sich die Lage verbessert und viel weniger Leute in Wohnungen leben, die eine Gefahr für Gesundheit und Wohlbefinden sind. Es zeigt, dass Verbesserungen auch in einem Land, das so arm ist wie Nicaragua, möglich sind wenn es eine Regierung hat, die den Willen hat, dem Volk seine wirtschaftlichen und sozialen Rechte zurückzugeben.

Zu den Kurzmeldungen der Woche
Herausgeber der deutschsprachigen Übersetzung: Nicaragua-Forum Heidelberg. Tel.: 06221-472163, e-mail: info(at)nicaragua-forum.de V.i.S.d.P.: Rudi Kurz
Übersetzung: Bärbel Neef.
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